Lockdown-Hobbys: Spazieren auf Friedhöfen

Friedhöfe sind Geschichtenerzähler, offenbaren aber auch seltsame Angewohnheiten der Lebenden

Im Lockdown habe ich mir angewöhnt, spazieren zu gehen, manchmal stundenlang. Häufig auch auf Friedhöfen, denn die ziehen weniger Menschen an als Parks. Dachte ich zumindest. Kürzlich besuchte ich zum ersten Mal nach fast 20 Jahren in Berlin die Gräber von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und wurde eines Besseren belehrt. Es war fast so voll wie im Mauerpark.

Oben die Lebenden, unter uns die Gebeine unserer Ahnen: Auf Friedhöfen begegnen sich Menschen aus verschiedenen Zeitaltern. Leider ist das Kennenlernen einseitig, denn nur die Toten stellen sich vor. Vor allem die jahrhunderte alten Grabsteine erzählen Geschichten über die Menschen, deren Überreste unter ihnen lagern – sofern sie nicht zu verwittert sind. Einmal begegnete mir ein Grab, in dem sieben Kinder einer Familie lagen. Sie waren im Abstand von ein paar Wochen an Diphterie gestorben. Die Kinderkrankheit hieß früher auch Würgeengel der Kinder, denn sie erstickt ihre Opfer. Über 200 Jahre nach der Tragödie bedrückte mich der Schmerz, den die Eltern damals erfahren hatten.  

Auch Ruhestätten von Leuten, die erst kürzlich gestorben sind, können gesprächig sein. Manche Angehörigen berichten ehrlich und warmherzig über die Verstorbenen. So habe ich von Herrn W. erfahren, dass er einst als Kranfahrer arbeitete und gerne Jägermeister trank. Um seinen alten Bauarbeiterhelm mit Initialen lagen wie Blütenblätter drapierte Schnapsfläschchen, der Baukran wurde in den Grabstein eingraviert.

Mit solcher Art Gedenken hat ein Friedhof in Rumänien sogar als Highlight in Reiseführern Erwähnung gefunden. Die Einwohner des Dorfes Săpânța haben diesen Brauch auf die Spitze getrieben. Auf dem „lustigen Friedhof“ verraten die Holzkreuze nicht nur, wer einst ein fleißiger Schäfer war, sondern auch, wer immer nur meckerte. Als ich diesen Friedhof einmal besuchte, wurde er leider von Touristinnen wie mir überrannt. Daneben pflegten aber auch Einheimische die Gräber ihrer Verwandten. Dabei fehlte ihnen jedoch eine wichtige Sache: an Fahrradschlössern angekettete Gießkannen.


Das scheint lediglich in Deutschland ein Brauchtum zu sein, das aber nirgendwo schriftlich festgehalten ist. Daher war es mir lange nicht bekannt, obwohl ich fast mein ganzes Leben in diesem Land verbracht habe. Erst seit ich regelmäßig über Friedhöfe schlendere, fällt mir diese Sitte auf. Wer sie noch nicht kennt, hier eine kurze Beschreibung: Im regelmäßigen Abstand von 200 Metern befindet sich ein Metallgestänge, meist an Wegkreuzungen. An dessen Armen hängen zahlreiche verblasste Gießkannen aus Plastik und in allen Farben. Von weitem sieht das hübsch aus, aber wenn man näher herantritt, bemerkt man, dass jede Gießkanne an einem Fahrradschloss hängt. Für die Schlösser befinden sich im Metallgestänge sogar spezielle Aufhängungen.

Der Brauch bleibt geheimnisvoll. Religiöse Gründe können zweifelsfrei ausgeschlossen werden. Dafür fehlt der geringste Anhaltspunkt. Also: Warum kettet man Gießkannen an? Schutz vor Diebstahl? Aber wer sollte sich nachts auf Friedhöfe schleichen, um Gießkannen zu stehlen? Zu absurd, kann nicht der Grund sein. Zweite Idee: Eigentum darf nicht geteilt werden. Sonst würde der Besitzer des Nachbargrabes seine Narzissen noch mit meiner Gießkanne wässern! Ebenfalls zu absurd, um wahr zu sein. Hier versagt meine Kreativität leider schon. Ein dritter absurder oder sogar vernünftiger Grund fällt mir nicht ein. Dafür schwirren die Wörter „Kartoffel“ und „Alman“ durch meinen Kopf. Hm.

Fotos: alle privat

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